Maßlose Bilder (Junges Forum für Bildwissenschaft 2008)

Maßlose Bilder (Junges Forum für Bildwissenschaft 2008)

Organisatoren
Interdisziplinäre Arbeitsgruppe "Die Welt als Bild" der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
26.03.2008 - 28.03.2008
Von
Thomas Wulffen, Berlin

Vom 26. bis zum 28. März fand zum dritten Mal das Junge Forum für Bildwissenschaften an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften statt in Kooperation mit der Schering Stiftung, Berlin. Das nicht öffentliche Symposion wird alljährlich von der dort angesiedelten Interdisziplinären Arbeitsgruppe ‚Die Welt als Bild’ veranstaltet. Zur ersten Veranstaltung im Jahre 2006 standen ‚Fragen der Bildwissenschaft’ im Vordergrund. Die zweite Veranstaltung widmete sich dem Thema ‚Visuelle Modelle’. Wissenschaftlich konzipiert und organisiert wurde das Symposion im Jahre 2008 von INGEBORG REICHLE (Kunstwissenschaft, Berlin), STEFFEN SIEGEL (Kunstwissenschaft, Berlin) und ACHIM SPELTEN (Philosophie, Berlin), die bereits die vorhergehenden Foren mit Erfolg durchgeführt hatten.
Schon im Band zur vorherigen Veranstaltung findet sich ein ganzes Kapitel mit der Überschrift ‚Maß und Raum’. Das Call for Paper zum Jungen Forum 2008 sowie die Einführung zum Thema von Steffen Siegel erweiterten das Thema. „An Bilder wird Maß angelegt und zugleich geben Bilder ein Maß vor.“ Damit wird einerseits das Objekt beschrieben und andererseits deren Maßstäblichkeit auch in Frage gestellt. „Die Welt der Bilder übersteigt das Maß der Wirklichkeit und die von ihr abgeleiteten Maßstäbe.“ Die Gegenbewegung dazu ist ein Bildflächenfetischismus, wie er unlängst von Markus Buschhaus (Karlsruhe) kritisiert wurde und von Steffen Siegel in der Einführung zum Symposion angesprochen wurde. Der damit verbundene Ästhetizismus müsse eine epistemologische Differenz anerkennen zwischen Repräsentation und Kunst. Welche Präsentationsformen überschreiten die vorgegebenen Maße? Wie vollzieht sich der Ausstieg aus dem Bild? Oder ist die Überschreitung schon im Bild selbst angelegt? In diesem Zusammenhang verwies Steffen Siegel auf paradigmatische Vorbilder hin wie die Fotos aus dem Vietnamkrieg oder aus dem Gefängnis Abu-Ghraib. Das Forum hat als Ziel formuliert, die unterstellte Maßlosigkeit besser zu verstehen. In einem Nebensatz bedauerte Steffen Siegel, dass sich zu diesem Thema keine genuinen Naturwissenschaftler gemeldet hatten.
In den insgesamt dreizehn Beiträgen zum Symposion, inklusive des öffentlichen Abendvortrags von Sybille Krämer (Philosophie, Berlin), wurde die Maßlosigkeit nicht nur kritisch durchleuchtet, sondern in der Breite und Vielfalt der unterschiedlichen Themen und Ansätze auch gleichzeitig zur Darstellung gebracht.

ARNO SCHUBBACHs (Philosophie, Basel) Vortrag zur ‚Maßlosigkeit berechneter Bilder’ operierte von einer wesentlichen Differenz her: Der zwischen Rezeption und Produktion. In der Rezeption zeigt sich die Maßlosigkeit als Unbestimmtheit oder Überdeterminiertheit der sichtbaren Elemente und deren Zuordnung. Anhand einer spezifischen Kartographie von 2.200 Abstracts der Vortragenden des jährlichen Kongresses der Association of American Geographers im Jahr 1999 hat Arno Schubbach auf durchaus sichtbare Weise die Maßlosigkeit in der Produktion von Bildern verdeutlicht. Das konkrete Beispiel ließ das auf den ersten Blick deutlich werden. Dafür allerdings gibt es zwei wesentliche Gründe. Zum einen entstehen im Übergang von den Daten zum Bild neue Relationen. Darüber hinaus werden weitere Beziehungen im Bild sichtbar, die in der Datenbasis nicht berechnet worden sind. Der Blick sieht immer mehr als die Berechnung, auch wenn er um den Weg von der Berechnung zum Bild weiß. Das schlichte Was? drängt das Wie? in den Hintergrund. Das deutete sich auch in der Diskussionsrunde an, die beim Bildmaterial eher von einem graphic clutter als von einer Übersetzung von Daten in Bildern ausging.

ALEXANDER GERNERS (Philosophie, Lissabon) Vortrag zum Thema der ‚Aufmerksamkeitsdiagramme’ war ein Ausschnitt aus einem größeren Papier über das Werk von Charles Sanders Peirce. Der Hinweis des Vortragenden auf noch weitere 80.000 Seiten des Philosophen, die noch erschlossen werden können, diente nicht zur Beruhigung des Publikums. Die zu erläuternde Maßlosigkeit des Icons und deren Subkategorien Bilder, Diagramme und Metaphern stehen im Raum, ohne deren Maßlosigkeit tatsächlich begründbar zu machen. Oder sollte das Diagramm dafür einstehen, wo doch die Metapher in der Übertragung auf ein drittes Objekt die Entgrenzung deutlicher werden lässt?

Im Rückgriff auf die Theorie des Filmbildes von Stanley Cavell entwickelte ULRIKE HANSTEIN (Filmwissenschaft, Berlin) in ihrem Vortrag mit dem Titel ‚Die Maßgabe der Einstellung, die Grenze des Films’ eine Theorie des Filmbildes, um dem Maß der Bilder ebenso so nahe zu kommen wie deren Ausmaße, also ihr Fassungsvermögen und ihre Reichweite. Die Kamera ist dabei immer außerhalb der Welt, die sie registriert; sie ist dem Sichtbaren entzogen, ganz im Gegensatz zum Gemälde, das Teil der Welt ist. „Die Welthaltigkeit des photographischen Bildes erweist sich in denkbaren Anschlüssen. Der Betrachter nimmt es als unvollständige, von unsichtbaren, doch vorhandenen Nachbarschaften umstellte Ansicht.“ Zur Erläuterung griff die Referentin auch auf die Filmtheorie von André Bazin zurück und dessen Verwendung von cache und cadre. Dabei kennzeichnet das cadre sozusagen das ‚Gegenbild’ zur Maßlosigkeit. Im cadre werden die Abstände, die Differenzen der Bilder deutlich. In einer Frage wurde dann doch die Maßlosigkeit im Hinweis auf die Maßsetzung durch den cadre, wie sie auch im Filmbeispiel aus Carl Theodor Dreiers ‚Gertrud’ deutlich wurde, thematisiert. Indirekt verwies der Ausschnitt auch auf die Maßlosigkeit heutiger Bildproduktion, auf deren Hintergrund Carl Theodor Dreyer einer tiefen Vergangenheit anzugehören scheint. Der Vortrag von Markus Rautzenberg (Philosophie, Berlin) am folgenden Tag wirkte da wie eine willkommene Ergänzung.

In der Negation der Maßlosigkeit fand auch MIRJAM BRUSIUS (Kunstgeschichte, Cambridge) ihren thematischen Ansatz für den Vortrag ‚Unschärfe als frühe Bildkritik’ als Frage nach dem Maß der Fotografie im 19. Jahrhundert. Anhand von Porträtaufnahmen Juliet Camerons verdeutlichte sie die Unschärfe in diesen Bildnissen, die im Widerspruch steht zur ‚Maßeinheit’ Schärfe, die am Beginn der Fotografie als oberstes Ziel formuliert wurde. Ihre Untersuchung beinhaltet dann auch die Frage nach dem Maß für ein Medium wie die Fotografie, das zu Zeiten Juliet Camerons erst vor wenigen Jahrzehnten erfunden wurde. Gilt diese Frage aber auch für Medien, die im 21. Jahrhundert erfunden wurden und werden? Mirjam Brusius kritisierte in diesem Zusammenhang und im Hinweis auf Talbot die teleologischen Geschichtsdarstellungen der Fotografie. Sie wies dabei nach, dass das künstlerische Vorgehen von Juliet Cameron mit der bewusst eingesetzten Unschärfe eine Kritik an der Abbildbarkeit im Foto selbst ist. In der scheinbaren Unvollständigkeit eröffnen sich Leerstellen und das Medium wird darüber als Maßstab in Frage gestellt. Dabei erscheint die Unschärfe als eine mehr oder minder (kontrollierte) Maßlosigkeit.

In SILKE WALTHERs (Kunstwissenschaft, Karlsruhe) Vortrag ‚Fotografie als Weltsprache – Edward Steichens ‚The family of man’ konnte man in Anschluss an den Ausführungen zu Juliet Cameron die Durchsetzung eines ‚weltanschaulich harmonisierten Bilderkosmos’ erleben, deren Maßlosigkeit immer wieder erstaunt, seien es die zwei Millionen Fotos, die zur Auswahl standen für die Ausstellung oder die Besucherzahlen. In der Ausstellung selbst werden die Fotoarbeiten in ein komplexes Beziehungsgefüge gestellt, das durch das Ausstellungsdesign noch hervorgehoben wird. Dekontextualisierung und das Einfügen in eine aus Bildern und Texten komponierte Abfolge als Reframing bewirkte eine Neucodierung durch die Relationen der Bilder zueinander und durch den Betrachter. Gleichzeitig diente diese Präsentation zur Vorstellung der Fotografie als visuelle Weltsprache. Diese Weltsprache war tatsächlich nur erst einmal Anspruch, aber dieser Anspruch setzte sich durch, weil er bewusst Bezug nahm auf schon vorhandene Bildmodelle. Leider wurde nicht thematisiert, wie weit diese spezifische Weltsprache noch heute Gültigkeit besitzt und welche Abhängigkeiten zu zeitgenössischen Medien das Verhältnis ändern.

MARK ASHRAF HALAWA (Kommunikationswissenschaft, Duisburg-Essen) widmete sich in seinem Vortrag ‚Vom Freiheitsverlust des Betrachters. Einige kritische Bemerkungen vom ‚Willen zum Sehen’ der Frage: Wie sind maßlose Bilder möglich? Im Rekurs auf Sartres Literaturbegriff, in dem erst im Akt des Lesens als Literatur realisiert wird, geht der Referent davon aus, dass das Bild sich auch erst im Akt der Wahrnehmung konstituiert, als Bild erkennenden Blick. Bemerkenswert dabei waren die religiösen und kirchlichen Konnotationen zur Maßlosigkeit, die am Beginn des Vortrags auftauchten. Der Maßlosigkeit steht ein spezifischer, historisch gewachsener und moralisch untersetzter Werte- und Normenkomplex gegenüber. Beide Punkte zusammen gezogen bedeuten, dass die Frage nach dem maßlosen Bild nicht allein am Bildobjekt anzusetzen hat. Vielmehr müssen die Bedingungen, unter denen Bilder erscheinen, in den Vordergrund gerückt werden. (Der vorhergehende Vortrag von Silke Walther könnte als Exemplum dafür dienen.) Entgegen der anthropomorphisierenden Bild-Theorie von W.J.T. Mitchell gesteht Mark Ashraf Halawa dem Bild eine wesentliche Eigenschaft zu: Ein jedes Bild verlangt danach, gesehen zu werden. „Wer ein Bild schafft, tut dies mit dem Ziel, am Ende etwas Sichtbares erzeugt zu haben, etwas, das sich seinem wie dem Blick anderer Betrachter feilbietet.“ Anhand der Fotos aus Abu-Ghraib lässt sich allerdings feststellen, dass bestimmte Abbildungen einem Freiheitsverlust auch für den Betrachter gleich kommen, weil in diesen Bildern das Sagbare als etwas vorgeführt wird, das erst als Bild in die Sichtbarkeit gelangen muss.

Das Ende des ersten Tages des Symposions war dem Abendvortrag von SYBILLE KRÄMER (Berlin) vorbehalten, die sich in ihrem Vortrag gegen die These der ‚maßlosen Bilder’ aussprach. Sechs Gründe legte sie dazu vor und ließ sie als zusammenfassendes Papier verteilen. Jedes Bild hat ein Format und diese Tatsache spricht gegen das Bild ohne Maß. Jedes Bild ist eine Rationalisierung des Sehens und eine Visualisierung der Ratio, wie sie deutlich zutage tritt in der Zentralperspektive. Jedes Abbilden ist ein Sichtbarmachen von etwas, das vorher unsichtbar war. An zwei konkreten Beispielen verdeutlichte Sybille Krämer diese Tatsache: der phonetischen Schrift und der Kartographie. Der Schrift eignet die Konstitution des Abgebildeten, gleichzeitig aber ist sie auch selbst Kartographie. Unter dem Begriff ‚Spielräume’ eröffnete die Referentin ein weites Feld der Bezüge zwischen Kommunikation, Kognition und Ästhetik und als Zuhörer ist man geneigt, an dieser Stelle doch von Maßlosigkeit sprechen zu wollen. Und diese Maßlosigkeit ließ sich auch wieder finden im letzten Glied der Argumentationskette, die sich geschickt anschließen lässt an die Überlegungen von Mark Ashraf Halawa: In der Animation des Bildes vermutet Sybille Krämer etwas, das das Bild selbst zum Mitspieler werden lässt, eine Art Antwort, die den Betrachtenden verändert. Darüber konnte man sich beim Empfang weitere Gedanken machen, vor allem im konkreten Umgang mit der ‚Brotakademie - ein Modell zum Anbeißen’ der Künstlerin Käthe Wenzel aus Berlin. Das Anbeißen des Brotlaibs war da nur der erste Schritt vor dem Verdauen.

Am zweiten Tagungstag stand das digitale Dispositiv im Mittelpunkt des Vortrags von MARKUS RAUTZENBERG (Philosophie, Berlin) und er könnte eine zeitgenössische Antwort auf die Frage nach der Unschärfe sein, die Mirjam Brusius in ihrem Vortrag thematisierte. Denn hier standen das digitale Bild und seine Schärfe im Vordergrund. Die ‚Urszene’ des digitalen Films findet sich schon bei Konrad Zuse, der seinen binären Code auf ein Stück 35-mm-Film aufbrachte. Darauf verweist auch Lev Manovich in seinem Buch ‚The Language of New Media’ (2001), in dem der Computer als Medium aufgefasst wird in Absetzung von Theorien Friedrich Kittlers und Paul Virilios. Ähnliche Oppositionen sieht Markus Rautzenberg auch bei Alexander Kluges Verständnis des digitalen Films. Dessen ‚Zwischenvalenzen’ übersetzt Markus Rautzenberg in das ‚Rauschen’ der Informationstheorie. Diese ‚Störung’ wird heutzutage zum Garant filmischer Repräsentation. Was die digital cinematography angeht, so müssen diese Störungen integriert werden, um dem digitalen Medium seine Glaubwürdigkeit zu verleihen. „Medienumbrüche machen somit Störungen als Materialität der Kommunikation nicht nur sichtbar, sondern auch ästhetisch disponibel.“ An Fotobeispielen erläuterte der Referent die Wirkung digitalisierter Bilder, deren Maßlosigkeit nur noch mit der Theorie des Ekels von Winfried Menninghaus zu begegnen ist. In der Fragenrunde wurde auch an die Filmtheorie Jean-Luc Godards erinnert, die geeigneter erscheint für das digitale Dispositiv als die Theorie von Alexander Kluge.

Die ‚praktische’ Seite der Digitalisierung führte NICOLE E. STÖCKLMAYR (Architektur, Wien) in ihrem Vortrag ‚Architektur ohne Maßstab – Digitale Visualisierungen im Entwurfsprozess’ vor. Die Visualisierungen zeitgenössischer Architekturen sind keine Pläne mehr, sondern ein Ergebnis aus neuer Software und bildgebenden Verfahren. Was diesen Visualisierungen fehlt, ist ein Maßstab, der eine Rezeption erleichtern könnte. Das wird in diesem Falle umso deutlicher, als Architektur auf den menschlichen Maßstab angewiesen ist, worauf auch die Referentin explizit hinwies. Ohne Maßstab aber wird die Rezeption erschwert wie sich am konkreten Beispiel für das ‚Phaeno-Museum’ von Zaha M. Hadid in Wolfsburg belegen lässt. Ohne die Kenntnis des Gebäudes lassen sich die unterschiedlichen Darstellungen nur schwer entziffern. Die Frage, wieweit die digitale Entwurfskonzeption das Bild der Architektur verändert, wurde nur am Rande berührt obwohl erst die Entwürfe der Architekten zu derartigen Darstellungen führen können. Welche Maßstäbe herrschen in einem Raum außerhalb des albertinisch-cartesianischen Konzepts? Eine Antwort darauf ließ sich in der Darstellung des Phaeno-Museum im erdnahen Weltraum finden. In Vergleichen zwischen dem realen Raum des Museums und der vorhergehenden Darstellung im digitalen Bild gewannen die Zuhörer wieder Boden unter den Füßen.

Die Teratologie ist die Lehre von der Ursache von Fehlbildungen. Der Begriff wird abgeleitet vom altgriechischen Wort Tèras ‚Monster’ und deutet damit schon den Verlust von Maßstäblichkeit an. Dieser Verlust war ein Grundtenor in MARCEL FINKE (Kunstwissenschaft, Tübingen) Vortrag „Von maßlosem Wuchs. Entgrenzung der Wahrnehmung und Bilder, die Tumore zeigen“. Und er versuchte zu zeigen „inwiefern einerseits der Versuch, sehend zu machen, und andererseits das Anliegen, etwas zum Sehen zu geben, sich in Peter Parkers missionsärztlichen Bemühungen und Lamquas Patientenbildnissen überschneiden.“ Mit den Eigennamen waren dann auch die wesentlichen Figuren benannt, der Arzt Peter Parker und der Maler Lamqua. Beide verbindet am Ende wohl ein ähnliches Ziel: ‚das Licht der glorreichen Evangelien über dem dunklen Reich’ auszugießen, wie es ein Zeitgenosse Parkers ausdrückte. Das Maßlose der Malerei von Lamqua liegt allerdings in der Überschreitung der Grenzen zwischen Malerei und Medizin. Dabei wird der analytische Blick des Mediziners gekreuzt mit der malerischen Anmutung durch den Künstler. In der Darstellung wird der chirurgische Eingriff virtuell wiederholt und es steht die Frage im Raum, ob ein derartiger Eingriff zulässig ist. An dieser Stelle ließe sich ein Anschluss finden an die Überlegungen von Mark Ashraf Halawa: Was unterscheidet teratologische Abbildungen von den Fotos aus Abu-Ghraib?

Eine ganz andere Hölle beschrieb JASMIN MERSMANN (Kunstwissenschaft, Berlin) in ihrem Vortrag ‚Luzifer im Höllentrichter: Die Vermessung der Hölle’. Es handelt sich dabei um jenen Ort, den Dante (1265-1321) Anfang des 14. Jahrhunderts in seiner ‚Quaestio’ und der ‚Göttlichen Komödie’ beschreibt. Seine Darstellung der Hölle bringt in das Maßlose Maß und Berechenbarkeit ein. Die Referentin erwähnte in ihrer Darstellung die wichtigen Details zur Vermessung der Hölle, um am Ende in der Gegenwart anzukommen. Konkretes Beispiel dafür war die Installation von Andreas Siekmann zur Documenta 12 in Kassel mit dem Titel ‚Die Exklusive’. Auf dieses Werk und andere Arbeiten bezieht sich die Feststellung: „Die Kunst zieht nun genau dieses in den Untergrund Gedrängte in den Bereich der Sichtbarkeit.“ Und man könnte im Sinne Durs Grünbeins, den die Referentin einer kritischen Betrachtung unterzieht, die veränderte Lage der Hölle hervorheben, von der Vertikalen in die Horizontale. Vielleicht ließe sich dieser Horizontale auch das digitale Dispositiv in der Darstellung von Markus Rautzenberg anschließen.

Es war wohl den Organisatoren und deren dramaturgischen Talenten zu verdanken, dass sich am Ende des Symposions ein Blick auftat, der die Maßlosigkeit der Maßlosigkeit berührte. Dabei ging es im Vortrag von BORIS GOESL (Medienwissenschaft, Nürnberg) nur um den so genannten ‚pale blue dot’. Dahinter aber verbirgt sich eine Abbildung der Erde aus einer Entfernung (6,4 Milliarden Kilometer), die das menschliche Maß einerseits in jeder Hinsicht überschreitet und dennoch auf Technik rekurriert, die von Menschen erdacht, entwickelt und gebaut wurde. Boris Goesl erläuterte sehr ausführlich die Dimensionen des pale blue dots, der in seiner blauen Färbung als eine zeitgemäße Form der Blauen Blume der Romantik erscheint. Andererseits eignet dem Bild ebenso eine digitale Dimension, da das Bild in Form eines Pixels auftaucht, im übertragenen und wörtlichen Sinne. Carl Sagan, der Mann hinter dem Projekt, benennt diese Differenz in den Worten: „Unser Planet ist ein einsames Körnchen im großen Dunkel des Weltalls.“ Diese Aussage aber betrifft auch schon die ‚rhetorische Wirksamkeit’ (Goesl) des ‚pale blue dot’, die allerdings erst durch die Erläuterungen entstehen kann. Boris Goesl verweist auf den Aura-Status, der für den ‚pale blue dot’ über die Berichte der ‚Produktion’ des Bildes hergestellt wird.

Das Konzept der Wirksamkeit ließe sich auch auf das Symposion selbst anwenden, das durch die einzelnen Vorträge und Beiträge dem Thema der Maßlosigkeit zwar Maß gab, aber dieses Maß auch in den Vorträgen und den Referenzen unter ihnen überschritt. Tatsächlich ergibt sich nach Abschluss des Symposions das Desiderat nach einem Maß in der Maßlosigkeit. Aber schon der Begriff ‚Bild’ ist übercodiert. Welches Bild ist gemeint, wenn wir von Bild sprechen: das Bild im Film wie bei Markus Rautzenberg oder den ‚pale blue dot’ in der Astronomie wie bei Boris Goesl? Oder ist es das literarische Bild wie in der Darstellung von Dantes Hölle durch Jasmin Mersmann? Schon die Architektur bewies, wie es Nicole E. Stöcklmayr zeigte, dass es ein Modellbild gibt und eine Visualisierung, die über jedes Modell hinausgeht. Es scheint nach diesem Forum notwendig zu sein, zum Begriff des Bildes zurück zu kehren, um von einer sehr konkreten Vorstellung davon eine konkrete Antwort zu finden. So leidet der Begriff der Maßlosigkeit am Fehlen seines eigenen Maßes.
Die konzentrierte Situation im Jungen Forum in der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften mag ihren Beitrag zur Klärung leisten. Wenn das Buch zum Symposion erschienen ist, wird die konkrete Suche nach einer Antwort auch in der Lektüre aufscheinen und weiter wirken. Es ist auf jeden Fall zu hoffen, dass das Junge Forum auch mit der Jahreszahl 2009 ergänzt werden kann.

Konferenzübersicht

Ingeborg Reichle, Steffen Siegel, Achim Spelten: Begrüßung
Steffen Siegel (Kunstwissenschaft, Berlin): Länge x Breite x Höhe? Perspektiven der Frage nach »maßlosen Bildern«
Arno Schubbach (Philosophie, Basel): Die Maßlosigkeit berechneter Bilder. Zum Bezug von Daten und Bild
Alexander Gerner (Philosophie, Lissabon): Aufmerksamkeitsdiagramme: Anmerkungen zur diagrammatischen Erkenntnisentwicklung
Ulrike Hanstein (Filmwissenschaft, Berlin): Die Maßgabe der Einstellung, die Grenze des Films. Wie Stanley Cavell und Gertrud im Verhältnis der Betrachtung stehen
Sylwia Chomentowska (Kunstgeschichte, Basel): Vom Begreifen zum Sehen des Bildes. Erhabenes und Nichts um 1800
Mirjam Brusius (Kunstgeschichte, Cambridge): Unschärfe als frühe Bildkritik. Die Frage nach dem Maß der Fotografie im 19. Jahrhundert
Silke Walther (Kunstwissenschaft, Karlsruhe): Fotografie als Weltsprache. Edward Steichens »The Family of Man« (1955)
Mark A. Halawa (Kommunikationswissenschaft, Duisburg-Essen): Vom Freiheitsverlust des Betrachters. Einige kritische Bemerkungen zum »Willen zum Sehen«
Sybille Krämer (Philosophie, Berlin): Gibt es ›maßlose Bilder‹? Kritische Überlegungen im Horizont der Frage nach der Kraft von Bildern
Markus Rautzenberg (Philosophie, Berlin): Exzessive Bildlichkeit. Das digitale Bild als Vomitiv
Nicole E. Stöcklmayr (Architektur, Wien): Architektur ohne Maßstab. Digitale Visualisierungen im Entwurfsprozess
Marcel Finke (Kunstgeschichte, Tübingen): Von maßlosem Wuchs. Entgrenzung der Wahrnehmung und Bilder, die Tumore zeigen
Jasmin Mersmann (Kunstgeschichte, Berlin): Luzifer im Höllentrichter: Die Vermessung der Hölle
Boris Goesl (Medienwissenschaft, Nürnberg): Die Welt als Bildpunkt: Pale Blue Dot

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